
“Ich habe ein sehr geradliniges Leben geführt: ich habe viel gearbeitet, viel verdient, habe mir viele Dinge leisten können, aber hatte überhaupt keine Zeit das Geld auszugeben. Ich habe mich ganz klassisch in meinem Hamsterrad der Geschwindigkeit der Gesellschaft angepasst. Das Stresslevel ist dann noch schlimmer geworden, als meine Mutter an Demenz erkrankt ist – jetzt hatte ich erst mal gar kein Privatleben mehr. Ich hab mich um alles gekümmert, aber mich dabei völlig vergessen. Die erste Umstellung auf eine 4 Tage-Woche hat ein wenig Linderung geschaffen, aber eben auch nicht wirklich, denn mein Arbeitsaufkommen musste nun eben statt in 5 Tagen in 4 Tagen erledigt werden.
In einem Urlaub ist es dann auf einmal recht deutlich geworden, dass etwas nicht mehr stimmt. Ich saß an einem wundervollen Strand und ich habe gemerkt, dass meine Gedanken schneller sind als mein Körper. Meine Gedanken waren da, mein Körper war da, aber das Zusammenspiel funktionierte auf einmal überhaupt nicht mehr. Ich habe regelrecht die Kontrolle über meine Gedanken und über die Steuerung meines Körper verloren. Meine Gedanken haben mich überrollt und Purzelbäume geschlagen. Das war unglaublich anstrengend, denn ich habe mich gefühlt, als würde ich den ganzen Tag Achterbahn fahren.
Aber erst mal bin ich aus dem Urlaub zurückgekommen und hab mich genauso wieder in die Arbeit gestürzt wie vorher, bis ich wenige Tage später feststellen musste, dass mir nach und nach die Haare ausfielen. Wie ich gelernt habe: eine klassische Begleiterscheinung von Stress. Eine Überlastungsdepression, auch umgangssprachlich Burnout genannt, hat immer eine körperliche Komponente und sucht sich dabei die schwächste Stelle am Körper aus. Bei vielen sind es Rückenschmerzen, Migräne, Lähmungserscheinungen oder ähnliches. Da ich in der Kindheit schon eine Auto-Immunkrankheit hatte, war es bei mir das Immunsystem: das eigene Immunsystem greift meine Haarwurzeln an und dadurch sind sie mir einfach ausgefallen.
Burnout hat man nicht von heute auf morgen, sondern man arbeitet sich selber ganz langsam dahin. Aber bald schon konnte ich meinen Haarausfall nicht mehr ignorieren: inzwischen waren mir an den beiden Seiten die Haare fast komplett ausgefallen und eines Morgens hatte ich nach dem Kämmen die ganze Bürste voll Haare. Das war erst mal ein Schock und in der Haarklinik haben sie mir dann knallhart die Diagnose ins Gesicht geschleudert: “Kreisrunder Haarausfall” oder im Fachbegriff: Alopecia Areata. Sie haben mich mit dem lapidaren Satz “Sie sollten dann mal ihren Stress minimieren” alleine gelassen.
Aber wie macht man das? Ich hatte jahrelang in verantwortungsvollen Jobs gearbeitet, war erfolgreich, hatte mich immer weiter nach oben gearbeitet. Aber wie man den “Stress minimiert”, hatte ich nicht gelernt.
Gottseidank hatte ich eine tolle Ärztin, die mich einfach erst mal für 2 Wochen krank geschrieben hat. Sie meinte damals: “Sie machen jetzt einfach mal nur Dinge, die Sie gerne machen. Kein Waschen, kein Bügeln. Sie machen daheim Urlaub und nehmen sich jeden Tag etwas Schönes vor.” Und ich habe mich daran gehalten: Ich war im Museum, bin spazieren gegangen und habe so viel wie möglich versucht, einfach zu entspannen. Aber ich habe gemerkt, dass meine Gedanken immer wieder aus dem Gleis geraten. Nach den 2 Wochen habe ich dann auf Teilzeit umgestellt und habe versucht alles einfach wie immer, nur etwas ruhiger anzugehen. Solange ich mich daran gehalten habe, war der Haarausfall konstant. Sobald ich meine Freizeit wieder minimiert habe, ist er wieder stärker geworden.
Neben meiner Arbeit hatte ich noch ein privates Studium begonnen, die Prüfungen standen vor der Tür und auf einmal bekam ich die volle Ladung ab: Immer wenn ich meine Haare gekämmt habe oder mit der Hand durch die Haare gefahren bin, hatte ich sie wieder büschelweise in der Hand. Da hab ich kurzerhand meinen Freund gebeten, sie mir abzurasieren. Sie mussten einfach weg. Da war ich radikal. Kaum war alles ab, einigten wir uns dass die Kopfform gleichmäßig rubnd ist und die neue Frisur mir überraschend gut steht. Das ist echt komisch: Du weißt gar nicht, wie Dein Kopf eigentlich aussieht. Und ich war erstaunt: Ich habe mich auch erstmal gar nicht unwohl gefühlt. Zwar hab ich auch inzwischen einige Perücke, aber die trage ich nur sehr selten zu festlichen Anlässen wenn ich keine passende Kopfbedeckung zum Outfit habe. Aber ansonsten trag ich Kopfbedeckung und wenn es warm genug ist, trag ich gar nichts. Einfach oben ohne!
Ich war schon immer ein Mensch, der gegen den Strom geschwommen ist – wenn alle etwas gut finden, dann finde ich es erst mal Suboptimal. Erst mal dagegen und dann gucken, wo es sich hin entwickelt. Das hilft natürlich jetzt sehr.
Je mehr ich über meine Zukunft nachdenken konnte, desto weniger habe ich mich im Büro gesehen. Ich will nicht mehr in den PC starren und Zahlen hinterher jagen. Ich will nicht mehr “funktionieren” oder der Fassade des funktionierenden Bürohaserls entsprechen.
Es war Zeit nun auch meine berufliche Umgebung zu verändern und über eine Freistellung und einen Aufhebungsvertrag bin ich dann in die Arbeitslosigkeit gegangen, um mich neu zu orientieren.
Meine Freunde habe ich auch recht schnell eingeweiht, nicht nur in Sachen Glatze sondern auch zum Thema Burnout. Es gibt immer ein paar, die es nicht blicken, aber mir war wichtig, kein Tabu-Thema draus zu machen. Eigentlich haben auch fast alle ganz locker und verständnisvoll reagiert und die die es nicht taten, habe ich recht schnell „aussortiert“.
Tja, und dann habe ich versucht eine Burnout – Therapie anzufangen und musste feststellen, dass man erstmal keinen Platz bekommt. Da muss man richtig für kämpfen. Das ist echt so ein bisschen absurd: Wenn du psychisch nicht stark bist, dann kannst du an einem Burnout richtig zerbrechen. Wer hat denn da noch die Kraft, um Hilfe zu kämpfen? Ich habe Gottseidank einige Charakterzüge, die mir dabei geholfen haben: Ich bin Scheidungskind – ein klassisches Schlüsselkind – und musste mich schon immer selbst durchboxen. Ich habe nicht aufgegeben und auch recht schnell einen Platz in einer Tagesklinik bekommen – aber auch erst nachdem ich einige Tests noch über mich ergehen lassen musste, die ausschließen sollten, dass durch die Auto-Immunkrankheit nicht auch noch Teile des Gehirns angegriffen wurden.
In der Wartezeit auf einen freien Therapieplatz bin ich noch mal verreist und habe mich dort noch mal intensiv mit mir und der Tiefenpsychologie auseinander gesetzt. Unter anderem habe ich dort Hörbücher gehört wie z.B. “Das Kind in dir muss Heimat finden”. Letztendlich steht da drin: Akzeptiere, warum du so bist und was du bist. Jeder findet eine Erklärung, warum er oder sie so ist wie man ist. Aber viel wichtiger ist, dass man sich so akzeptiert. Das hat wirklich gut getan und in der Therapie konnten wir super daran ansetzen. Denn darüber lesen und hören ist eine Sache, aber es umzusetzen und dann damit leben ist noch mal eine andere.
Nach der Therapie habe ich mich dank meiner tollen Betreuerin im Arbeitsamt erst mal noch weitergebildet und mich dann selbständig gemacht. Inzwischen arbeite ich Teilzeit, um meine Fixkosten wie Wohnung und Versicherungen zu bezahlen. Je nach Job sind das mal 2 oder 3 Tage in der Woche. Und für meinen Luxus arbeite ich als Selbständige an unterschiedlichsten Projekten.
Um herauszufinden, was ich machen möchte, hab ich erst mal meine Happy-List aufgestellt: Sprich, ich habe mich 3 Tage exzessiv damit auseinander, was mich in meinem Leben glücklich macht. Bei mir standen Dinge drauf wie:
Kinder machen mich glücklich, weil sie einen starken Fokus auf Achtsamkeit haben und so rein und unbelastet sind. Aber es standen auch Oldtimer drauf, weil sie so pur und mit wenig Schnickschnack versehen sind. Und natürlich stand auch Reisen auf meiner Happy-List: Ich liebe es zum Beispiel in fremden Ländern mit den öffentlichen Verkehrsmitteln quer durchs Land zu fahren und so die Menschen und das Leben dort wirklich hautnah kennenzulernen.
Und das alles vereine ich nun in den unterschiedlichsten Jobs: vom Kassenwart auf diversen Großveranstaltungen, bis zur Nanny für ein kleines Kind um die berufstätigen Eltern hin und wieder zu entlasten. Von der Reiseführerin bei den Hey Minga Touren bis zur Kaffee-Verkäuferin und auch diverse Gastrojobs. Ich mach alles, so lang ich mit Menschen zu tun habe. Ich habe so viele Ideen – und ich bin mir für nichts zu schade. Ich gehe auch putzen, wenn es sein muss – um ehrlich zu sein, mag ich das sogar gerne. Früher hatte ich meine eigene Putzfrau, weil ich trotz meiner Freude am Putzen meinen Fokus auf den beruflichen Erfolg gelegt hatte und keine Zeit dazu fand. Aber jetzt putze ich bei mir wieder selber.
Welchen Tipp würdest Du anderen geben, die vielleicht in einer ähnlichen Situation stecken?
Ich hätte wahrscheinlich zwei Tipps!
Einmal: Mut zum Sein. Aber das braucht leider viel Übung. Versuchen nicht an morgen zu denken. Denk eher an gestern und hol dir aktiv schöne Erinnerungen wieder her. Denn morgen kannst Du nicht beeinflussen. Du kannst nur den Moment und die nächsten Sekunden beeinflussen.
Und der zweite Tipp wäre: Wenn man über alles offen redet und Wünsche und Vorlieben äußert, ergibt sich irgendwie immer irgendwas Neues, Wundervolles. Ich kriege oft tolle Ideen zurück in Gesprächen und übernehme sie beruflich oder nehme sie auf meine Happy-List. Sowas lebt – man muss nur mit offenen Augen durchs Leben gehen, und die Dinge mitnehmen.
Mein nächstes Projekt ist mich als Resilienz-Trainerin ausbilden zu lassen. Resilienz bedeutet, dass man seine innere Stärke erkennt und aufbaut. Ich vergleiche uns da gerne mit einem Baumstamm: Am Anfang ist der Baum klein, der Stamm dünn und muss erst mal wachsen. Je breiter der Baumstamm ist, um so stabiler sind wir um die äußeren Einflüsse an uns vorbeiziehen zu lassen oder mit Schicksalsschlägen umzugehen. Man könnte sagen, dass Resilienz unser inneres eigenes, geistiges Immunsystem ist. In diesem Bereich möchte ich mich weiterbilden. Ich habe so viel mitgemacht und gelernt – das möchte ich gerne an Menschen weitergeben. Ich könnte mir vorstellen, das erst mal im kleinen Kreis aufzubauen und mich da auszuprobieren. Einfach machen und ausprobieren… und auf mich zukommen lassen.
Wenn man das irgendwie zusammenfassen will, dann würde ich sagen: Es war eine echt harte Zeit, aber im Nachhinein wars echt geil: wer hat schon die Chance in meinem Alter so viel über sich selber nachzudenken und ein kleines persönliches Tiefenpsychologie-Studium zu absolvieren um dann ganz aktiv das Glücklichsein, ohne viel Schnickschnack anzusteuern.”
Dieses Gespräch hat mich persönlich so sehr bewegt, dass ich mich danach noch ein bisschen mehr mit dem Thema auseinandergesetzt habe. Hier ein paar Seiten, auf denen es mehr zu dem Themen gibt:
https://kreisrunderhaarausfall.de/
https://www.heyminga-touren.com/
https://de.wikipedia.org/wiki/Resilienz_(Psychologie)
https://de.wikipedia.org/wiki/Burn-out
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Vielen Dank für diesen Beitrag! Ich bin immer froh, wenn Menschen ihre Erfahrungen zu diesem Thema teilen. Mir hat das oft geholfen und es es hilft immer noch. Ich wünsche dir viel Spaß und Zufriedenheit auf deinem neuen Weg.