49 Jahre

Reimport

Stadtviertel: Neutrudering
Lieblingsort:
das Viertel um den Odeonsplatz herum, weil es viel Geschichte atmet
Beruf:
Referentin

– vorlesen lassen –

“Ich bin ein “Reimport” aus der Türkei und ich fühle mich als Münchnerin. Ich war früher viel unterwegs, aus München bin ich aber tatsächlich nie groß rausgekommen – auch wenn ich mehrmals die Chance dazu gehabt hätte. Inzwischen wohne ich sogar wieder in der Straße, in der ich groß geworden bin.
Aber ich bereue es nicht. Im Gegenteil: Ich habe hier einen ehemaligen Klassenkameraden wieder getroffen und wir leben unser Patchwork-Leben. Meine Eltern wohnen gleich um die Ecke und wir sehen uns regelmäßig.

Mein Vater ist mit 18 aus der Türkei hier in München am Bahnhof mit seinem Holzkoffer aufgeschlagen. Er wollte hier studieren und ein wenig Geld verdienen und dann wieder zurück. Wir sind alle immer noch hier.

Wie sehe ich mich? Damit habe lange gehadert. Ich bin westlich aufgewachsen und Religion war nie das große Thema bei uns. Mein Papa ist Demokrat durch und durch und flippt aus, wenn er sieht, was in der Türkei alles passiert. Trotzdem hatte ich immer das Gefühl, dass ich anders bin: Ich bin sehr behütet aufgewachsen. Als Kind und später auch als Teenie durfte ich viele Dinge nicht, die meine Freunde durften. Bis zum 5. Lebensjahr hatte ich nur meine Cousine und noch ein paar Nachbarskinder als Berührungspunkte mit Deutsch. Aber ich bin sehr sprach-affin und habe Deutsch sehr schnell gelernt. In mein Zeugnis aus der 1. Klasse hat die Lehrerin geschrieben, dass sie sich freut, dass mein Sprachschatz trotz meines Hintergrundes so erstaunlich groß ist. Sie hat es bestimmt total lieb gemeint. Aber wenn ich das heute lese, stellen sich mir alle Haare auf vor. Das nennt man heute Alltagsrassismus.

Manchmal hab ich mir gedacht, es wäre schon schön, einfach deutsch zu sein. Inzwischen habe ich auch die Deutsche Staatsbürgerschaft und die türkischeabgelegt. Und ich habe einen nicht-türkischen Namen angenommen. Ich habe mit der Türkei sehr wenig zu tun. Ich habe hier keine türkische Community und dort keinen Ankerpunkt. Es ist das Land meiner Eltern. Ich würde nicht sagen, ich bin Deutsche, aber ich bin Münchnerin.”

Hör dir die ganze Geschichte hier an – vorgelesen von einer Erzählerin.