58 Jahre

Verloren

Stadtviertel: Oberföhring
Lieblingsort:
Oberföhringer Wehr
Beruf:
Speditionskauffrau

– vorlesen lassen –

“Als ich Christian als Kollegen kennenlernte war ich 38 Jahre alt, hatte beste Karriere-Prognosen und mit Kindern abgeschlossen, er war 8 Jahre jünger und so richtig leiden konnte ich ihn nicht. Und doch habe ich mich in ihn verliebt. Wir sind zusammengezogen, haben ein ungeplantes Wunschkind bekommen und geheiratet.

Es passierten komische Dinge: Frauenklamotten tauchten auf, ich fand Fotos von Christian in Frauen-Outfits und einen ausgefüllten Anamnesebogen für einen Psychotherapeuten. Seine Depressionen wurden immer schlimmer und sein Sport immer extremer. Darauf angesprochen, ist er mir ausgewichen. Ich habe beschlossen, dass mich das nicht stört. Frisch verheiratet und glücklich mit Kind dachte ich mir: Mach doch nicht alles kaputt nur wegen so einem Scheiß.

Doch eines Tages habe ich eine Hotelrechnung gefunden und wollte mich der Wahrheit stellen. Es hat Stunden gedauert, bis er ehrlich werden konnte. Er spürte schon als Kind seine Transsexualität und fühlte sich seit jeher wie ein Monster. Ich habe mir alles neugierig, wie alles im Leben, angehört und habe auch seine Corsagen und Perücken probiert. Es waren schöne Momente intensiver Nähe dabei, aber ich war wie taub.

Und dann sind wir da zusammen durch: ich habe ihn begleitet, bis er in das hineinwachsen durfte, was sie heute ist: Chris. Während sie nach der schweren Anpassungs-OP die nächsten zwei Jahre ihre Pubertät zelebrierte, trauerte ich unbemerkt ganz tief in mir um meinen verlorenen Mann – bis zu dem Tag, an dem mir Chris, nicht beabsichtigt, aber doch deutlich und verletzend, bewusst machte was aus mir geworden war:  ich hatte mich komplett verloren.

Ich habe mich stückchenweise wieder zusammengesetzt und bin heute wieder bei mir angekommen. Dafür war es notwendig mich von Chris zu lösen, aber auch umgekehrt. Obwohl wir immer tief verbunden waren, auch durch unseren Sohn, war es notwendig uns neu zu begegnen, neu zu sehen, die Veränderungen zu akzeptieren.

Heute haben wir beide Beziehungen, aber als Familie fühlen wir uns dennoch und haben eingesehen, dass wir das nicht ändern wollen, sondern von unserem Umfeld erwarten das zu akzeptieren und einfach Teil davon zu werden.

Mein Wunsch einer Bilderbuchfamilie ist zugegeben nicht erfüllt worden. Aber dafür habe ich eine herausfordernde, spannende und prägende Familiengeschichte erleben dürfen – vielleicht nicht ein Bilderbuch, aber dafür mehr Inhalt.“

Lass Dir die Geschichte von einer Erzählerin vorlesen: