65 Jahre

Menschen

Stadtviertel: Au
Lieblingsort:
Hauptgebäude der LMU
Beruf:
Professor für Informatik an der LMU München

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“Ich hatte eine schwere Kindheit. Kinder mit einem solchen Hintergrund studieren normalerweise nicht. Und sie werden auch keine Universitätsprofessoren. Ich hätte eher drogenabhängig, gewalttätig oder kriminell werden können. Aber das ist mir erspart geblieben – dank meiner Mutter und vor allem dank vieler selbstloser und großzügiger Menschen, die an mich geglaubt haben. Dafür bin ich sehr dankbar.

Es fing damit an, dass meine Mutter, meine Brüder und ich in die Pariser Kreise der Exil-Russen aufgenommen wurden. Es war eine bunte Mischung: Prinzen und Roma, Ex-Revolutionäre und Ex-Fürsten, Wissenschaftler und Handwerker, Künstler und Priester, Juden und Russlanddeutsche. Die Kultur und die Erfahrung des Verlustes – der Heimat, der Familie oder des Wohlstands  – verband sie. In einem waren sie alle gleich: Sie waren großzügig.

Sie haben uns nicht nur materiell geholfen, sondern uns auch Zugang zu Bildung und Kunst verschafft. So bin ich mit 12 nicht nur an meine erste lange Hose gekommen, sondern auch bin in eine der besten französischen Privatschulen gegangen, die Elsässische Schule. Ein russisch-georgischer Lehrer hatte dafür gesorgt, dass ich die Aufnahmeprüfung bestehe und dass ich ein Stipendium bekomme. Beides erscheint mir rückblickend ziemlich unwahrscheinlich. Auf dieser Schule habe ich dann einen Freund gewonnen, der mich immer wieder eingeladen hat: Zum Mittagessen, in den Urlaub, ins Kino, usw. So habe ich einiges gelernt, z.B. in weißen Handschuhen servierte Gerichte mit vielen unterschiedlichen Bestecken zu essen. Und von seinen Eltern bekam ich alle neu-erschienenen Bücher geschenkt oder geliehen, die ich lesen wollte. Seine Familie hat mich sehr liebevoll aufgenommen. Mein Freund ist vor zwei Jahren gestorben aber ich treffe mich immer noch mit seinen Kindern, die mich ins Familienhaus in der Provence einladen.

So konnte ich dank der Hilfe und Liebe von sehr vielen Menschen trotz Prüfungsangst studieren und promovieren. Ich wurde Wissenschaftler und eines Tages drückte mir ein Kollege und Freund eine Stellenanzeige in die Hand und sagte: “Deine nächste Stelle”. Ich erwiderte: “Meine? Warum denn nicht deine?” Mein Freund antwortete: “Weil du bessere Chancen hast als ich.” Und so wurde ich Hochschullehrer an der LMU.

Ich habe immer das Gefühl, dass ich eine Schuld trage, die ich nie zurückzahlen könnte. So war es mir wichtig, meine Studenten und Doktoranden möglichst gut zu betreuen, Freundschaften zu pflegen und, wenn möglich, Menschen zu helfen. Ich freue mich ein bisschen, von dem Glück zurückzugeben, das mir geschenkt wurde.

Wenn man älter wird, dann fragt man sich, was im Leben eigentlich wichtig ist. Ich kann für mich sagen, dass Menschen wichtig sind und mein Leben lebenswert machen: Wichtig sind mir tiefe, intensive Beziehungen und Freundschaften zu Menschen, die füreinander aufmerksam sind und liebevoll miteinander umgehen. Und auch wenn die Pandemie-Zeiten hart waren: es waren meine schönsten Jahre als Hochschullehrer – wegen der Unterstützung und der Aufmerksamkeit meiner Studenten. Ich bin überzeugt, dass die erlebte Solidarität der Pandemie-Zeit die Gesellschaft positiv prägen wird.”


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