78 Jahre

Leben

Lieblingsort: Keine Speziellen, mit meinem Mann in langen Spaziergängen die Stadtviertel zu erkunden, Sonne und ein Glas genießen
Beruf:
Künstlerin
Viertel: Ramersdorf – Fasanenpark

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“Ich bin 45 geboren. Mein Erzeuger war verheiratet und ich war ein krankes Baby. Daher hat mich meine Mutter abgegeben und ich kam über Umwege zu meinen Adoptiveltern. Heute würden solche Eltern nie wieder ein Kind bekommen: der Vater war Hilfsarbeiter. Die Mutter war Putzfrau, nervenkrank und hatte eine lockere Hand. Lehrerinnen haben das zuständige Jugendamt mehrfach informiert, aber die Entscheidung zu bleiben, wurde mir überlassen. Wer geht denn freiwillig in ein Waisenhaus?

Mit 15 wurde es dann so schwierig, dass ich zu rebellieren begann. So bin ich in die Klosterschule in der Preysingstraße gekommen. Dort habe ich ein Klosterleben geführt ohne Innen-Klinken an den Türen, die in die Freiheit führten. Wir haben die Tage in Gruppen an verschiedenen Stationen für Lehrzeit und Ausbildung verbracht. Es gab offene Schlafsäle, wir hatten keinen Ausgang alleine, durften nur am Sonntag in Zweierreihen unter Aufsicht spazieren gehen. Es war ein sehr enges Leben, aber trotzdem fühlte ich mich behütet und sicher. Es hätte viel schlimmer kommen können und ich habe viel gelernt: Nähen, Bügeln, kaufmännische Ausbildung und viel über Gemeinschaftsgeist.

Nach unserer Entlassung wurden wir an Bauernhöfe in der Hallertau und andere Haushalte verschickt, haben hart arbeiten müssen und dafür wenig Geld bekommen. So ist meine ganze Teenagerzeit verloren gegangen!

Mit 20 habe ich dann bei Agfa zu arbeiten angefangen und am ersten Abend im Ledigenwohnheim meinen Mann kennengelernt. Die große Liebe meines Lebens! Innerhalb weniger Monate bin ich schwanger geworden und wir haben geheiratet. Ich bin also nahtlos von der Klosterschule dazu übergegangen Frau und Mutter zu sein. Mein großer Wunsch war immer Kinder und Familie zu haben. Wir haben 2 Kinder und 4 Enkelkinder, auf die wir sehr stolz sind. Wir sind jetzt 59 Jahre verheiratet – mit vielen Höhen und Tiefen.

Ich wollte immer das Beste für meine Kinder, sie sollten eine schönere Kindheit haben wie ich, was natürlich nicht immer gelang. 15 Jahre lang bin ich nicht einen Abend weggegangen und war für sie da. Und trotzdem habe ich auch Fehler gemacht. Es war learning by doing! Ich habe gegen den Willen meines Mannes zu Arbeiten begonnen und habe die Kinder und den Haushalt versorgt, so gut wie möglich. Das war keine leichte Zeit, aber ich wollte unabhängig sein! Irgendwann hat mich mein Arzt dann auf Kur geschickt. Dort habe ich endlich gelernt, zu leben und mich zu akzeptieren! Ich habe mit Sport begonnen, mir die Haare geschnitten, Abendkurse belegt und den Führerschein gemacht. Und ich habe auch meine Teenagerzeit nachgeholt, bin mit meinen Freundinnen tanzen gegangen und alleine in den Urlaub gefahren. Über diverse Malkurse in der Toscana mit Gesine Frölich bin ich auch zur Malerei gekommen, die jetzt meine große Leidenschaft ist. Das kreative Schaffen mit Farben und Materialien gibt mir meinen Seelenfrieden und die Wärme, die ich für mein Leben so benötige. In meinem Atelier und im Kreis meiner Familie bin ich einfach zufrieden und glücklich.

Jetzt liebe ich dieses Leben und genieße jeden Tag. Ich bin dankbar, dass mir irgendwo im Leben die Kraft gegeben worden ist, das alles gut zu überleben. Egal, was im Leben passiert: “Es gibt fast immer was Lebenswertes.”


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