87 Jahre

Viel zu erzählen

Lieblingsort: Milbertshofen
Beruf:
Rentner
Viertel: Milbertshofen

– vorlesen lassen –

„Wenn ich Ihnen meine Geschichte erzähle, dann werden wir gar nicht fertig. 44 haben sich meine Eltern scheiden lassen und 45 sind meine Mutter, mein Bruder und ich geflüchtet. Die Nacht davor war taghell und der Russ’ war schon bei Bresslau gestanden. Einmal wollten wir mit einem Zug fahren, aber in den Personenzug haben sie uns nicht reinlassen. Genau der Zug ist dann beschossen worden. Als wir im Görlitzer Bahnhof mit dem Güterzug ankamen, sind die Toten auf dem Bürgersteig gelegen. Vielleicht wären wir auch dabei gewesen.

Und so sind wir immer weiter und über die Tschechei dann in der Oberpfalz bei einem Großbauern gelandet. Meine Mutter hat in die Arbeit in eine Ziegelei gehen müssen, mein Bruder ist in die Schneiderlehre und ich bin in die Schule gegangen. Nach der 8. Klasse bin ich dann in die Lehre zum Metzger. Ich hab alles machen müssen – und habe auch alles gemacht. Der Chef war ein strenger Meister, aber er hat nicht gehauen und es gab kein böses Wort. Er war ehrlich und ich hab viel gelernt von ihm. Er war mir näher wie mein Vater. Als ich 17 war, ist mein Bruder bei der Arbeit tödlich verunglückt. Und so waren wir allein – die Mutter und ich.

In der Lehrzeit hab ich auch meine Frau kennengelernt. Sie war auf dem gleichen Hof und wir haben geturtelt. Später haben wir dann geheiratet und 1962 ist unser Mädel auf die Welt gekommen.

Ich hab meinen Gesellenbrief als Metzger gemacht. Für den Meister hab ich aber kein Geld gehabt. Ich hab alles gemacht, was man mir angeboten hat: Metzger, Tiefbau, Hochbau, Gleisbau, in der Ziegelei, als Möbelverkäufer. Immer nur wegen dem Geld. Einmal Geld verdient, einmal wieder voll gefressen.

Wir hatten viele Schicksalsschläge: die Tochter ist mit 35 gestorben. Ich hatte 20 OPs, 17 Kuraufenthalte. Meine Frau hatte Brustkrebs. Ich hab keinen Magen mehr, keine Galle, kein Blinddarm. Es wird dir nichts geschenkt im Leben. Wir haben beide gearbeitet und hatten immer gerade genug Geld. Wir können heute noch keine Sprünge machen. Aber wir können uns satt essen und sind genügsam.

Ich seh immer nur das Schöne. Ich bin immer ehrlich zu allen Leuten gewesen und bin auch ehrlich zu mir und zu meiner Frau. Wir haben nie ein ernstes Wort gestritten. Es kann keiner glauben, dass wir so ein Verhältnis haben und das haben wir uns beide geschaffen. Wir gehen immer Hand in Hand ausser Haus. Das machen wir schon Jahre – da war meine Frau noch nicht so krank wie jetzt. Meine Frau ist dement und hat Angst, dass ich sie alleine lasse. Sie war immer für mich da. Und jetzt bin ich für sie da. Ich werde mein Spotzl nie im Stich lassen.“


Lass Dir die Geschichte von einer Erzählerin vorlesen: