92 Jahre

Ans Herz gewachsen

Lieblingsort: Mein Zuhause mit meinem Garten
Beruf:
ehem. Lehrerin, jetzt Rentnerin
Viertel: Ramersdorf

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„Ich möchte eigentlich nicht so gern von mir erzählen, aber ich lege großen Wert auf einen Abschnitt aus meinem Leben. Das war 1987, als die Flüchtlinge zuerst kamen und ich wollte irgendwas tun, was einen Sinn hat. Wir hatten eine überparteiliche, überkonfessionelle Gruppe, die sich “ökumenischer Arbeitskreis für Flüchtlinge” nannte. Einfach Leute, die das Gleiche wollten: Was Gutes tun. Die haben mir dann zwei Familien aus dem Libanon zur Betreuung gegeben. Wir haben uns ein- oder zweimal im Monat mit der Gruppe getroffen und auch Ausflüge gemacht. Wir hatten noch keine persönliche Verbindung und es war auch schwierig, sich zu verständigen. Als ich mal bei Ihnen war, saßen die zwei Schwestern auf dem Boden und zeigten mir, dass sie sich die Beine enthaart haben. Aber wie! Sie haben Zucker und Honig draufgeschmiert und dann abgerissen. Das war natürlich lustig! Oder sie wollten mir erzählen, was sie gekocht haben. Sie haben gesagt: “Papagi! Papagi!” Sie hat Hähnchen gemacht! Dazu hat sie mir die Gläser und Dosen gezeigt, von dem, was sie dazu gemacht hat. So war es schon ein Anfang der Verständigung. 

Die Kinder sind groß geworden und ich war oft dort. Die Kinder kamen in die Schule und wir haben Hausaufgaben miteinander gemacht. Ich habe jeden Geburtstag mit ihnen gefeiert. So bin ich langsam, ganz eng in die Familie gekommen. Inzwischen sind die Kinder groß und haben selber schon Kinder. Es war einfach ein Zusammengehören. Wenn wir uns heute noch ab und zu treffen, ist die Freude groß, und ich back heut’ noch Weihnachtsplätzchen für sie. Die Familie liegt mir wirklich sehr am Herzen. 

Gerade sind sie aber sehr, sehr bedrückt und verzweifelt, weil sie aus dem Südlibanon kommen, wo jetzt die Kämpfe sind. Ihre Eltern und Geschwister sind geflüchtet und wissen nicht, wovon sie leben sollen. Und dann ruft sie immer an und schüttet ihr Herz aus. Sie hat auch ein paar Mal gesagt, ich sei ihre “deutsche Mutter”, weil sie mir Sachen erzählt, die sie sonst mit niemandem spricht. 

Diese Geschichte ist mir wichtig, weil so viel geschimpft und getobt wird. Heute erst recht, wenn man die AFD hört. Und das war damals schon sehr verbreitet. Ich weiss noch, als ich eine Wohnung für sie gesucht hab. Da hat eine Frau am Telefon zu mir gesagt: “Das ‘ziefer wollen wir nicht!” Das hat mich so empört! Und dabei haben alle vier Söhne einen guten Beruf und sind nie der Allgemeinheit zur Last gefallen.”


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