94 Jahre

Vergangen

Viertel: Untergiesing
Lieblingsorte:
im Wald
Beruf:
Rentnerin

– vorlesen lassen –

“Ich war 9 Jahre, als der Krieg angefangen hat. Wir waren alle ausgebombt und arm. Mich ham’s immer gern zum Hamstern mitgenommen, weil ich so dünn und schmal war: so ein richtig ausgehungertes Stadtkind.

Aus der Zeit gibt es nur noch ein einziges Bild. Aber man hat halt nicht so viel zusammengepackt, wenn man in den Keller musste. Wir waren immer nur froh, wenn nix passiert ist. Es war keine schöne Zeit. Aber es haben Millionen mitgemacht und die in der Ukraine machen es jetzt auch mit. Die kriegen wenigstens psychologische Hilfe. Das war bei uns nicht. Wir sind rumgelaufen und haben die Toten angeschaut. Wenn der Alarm kam, ist die Oma oft am Bett gesessen, hat nur geschnauft und wollte nicht los. Ich hab’s damals nicht verstanden, dass sie die Kraft nimmer hatte. Es war einfach schlimm und ich wünsch es niemandem. Die Sauköpfe sollen alle verrecken, die einen Krieg anfangen. 

Uns ist es nicht schlecht gegangen. Wir Kinder haben nicht barfuß gehen müssen und haben unsere “Klapperln” gekriegt. Die haben wir beim Juden gekauft. Das war ein schönes Geschäft oben an der Tela. Ob das ein Jud war oder nicht: Das waren für uns halt Menschen. Für uns Kinder so oder so. Da sind wir gut bedient worden und aus. 

Ich bin nur froh, dass bei uns daheim niemand so war. Der Neffe meiner Oma war schon ein Nazi und kam ab und zu mit seiner braunen Uniform. Da hat die Oma immer gesagt: “Jetzt kommst du schon wieder mit deinem Kasperlg’wand.” Aber er hat sie nie angezeigt. Wir hatten schon den völkischen Beobachter, aber ich hab nichts davon verstanden. Wir Kinder haben aus Dummheit noch so Lieder gesungen wie: “Wir fliegen gegen Engeland und mit uns fliegt der Tod.” Es wäre furchtbar, wenn jetzt alle so blöd wären, wie wir waren.

Ansonsten hatte ich eine schöne Kindheit. Ich hab München noch als Dorf gekannt: Wie sie abends die Straßenlichter angezündet haben. Die Pferdewagen für das Bier und die Aschentonnen. Die Kioske und die Guttis, die wir beim Kramer gekauft haben. Das Silberpapier der Haserl zu Ostern! Wir haben auf der Holztreppe und Schussern gespielt! Abends sind die Nachbarskinder zu uns gekommen und die Oma hat Geschichten erzählt. Es war eine schöne, arme Zeit. Ich habs aber nicht arm empfunden, weil alle bescheiden waren. 

Nach dem Krieg sind viele mit den Amis gegangen, aber ich bin lieber in die Arbeit und hab geschaut, dass ich meine Brötchen verdien. Ich hab nach der Schule im Geiselgasteig angefangen. Wir haben die Negative von Filmen und der Wochenschau geschnitten. Da hab ich auch meinen Mann kennengelernt. 

Ich hab so einen braven Mann gehabt. Es war mein erster und letzter Mann. Der war’s! Und er hat mich auch mögen. Wir waren beide berufstätig und das Geld wurde ehrlich geteilt. Wir haben alles miteinander gemacht und wir sind viel in der Natur spazieren gegangen! Leider jetzt nicht mehr. 

Seit 5 Jahren geh ich nimmer raus. Ich habe zu große Schmerzen. Ich hab nie gedacht, dass ich das aushalte. Und dann bin ich wieder zufrieden und froh, dass ich eine Wohnung hab. Jetzt bin ich eine alte Schachtel! Wir haben alle nicht geglaubt, dass die Dürre mal so alt wird und alle überlebt!”


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