95 Jahre

Glück und Anstand

Viertel: Lehel
Lieblingsort:
früher war es die Residenz-Weinstube
Beruf:
Industriekaufmann, jetzt Rentner

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“Dass einem die Familie wichtig ist, ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Bei mir vielleicht besonders, weil ich nicht in einer Familie aufgewachsen bin. Ich wurde 1928 als lediges Kind geboren und bin erst bei meiner Mutter, die Vollzeit gearbeitet hat, und dann bei meinen Großeltern aufgewachsen. Als die älter wurden, wurde es ihnen zu viel. Und dann kommt man halt ins Heim und hofft, dass man Glück hat. Und ich habe Glück gehabt. Aber ich hab mir auch zu helfen gewusst: z.B. mit dem Handtuch in die Lederhosen hinten als Polster gegen die Schläge der Lehrer. 

Während dem Krieg wurde ich dann eingezogen und war am Oberwiesenfeld. Das war das Militärgelände, wo heute der Olympiapark ist. Jeder von uns hat ein Holzgewehr gekriegt, das aus Dachbrettern ausgeschnitten war. Und dann mussten wir 14jährigen halt das machen, was die älteren auch haben machen müssen: Exerzieren. Und so haben die gedacht, dass sie den Krieg gewinnen. Wir waren die “nachwachsenden Helden”. (lacht) Für uns waren das alles Rindviecher. Die sind da mit ihren Uniformen rumgelaufen, die Bomben sind auf uns runter und wir haben mit dem Holzgewehr exerziert. So klein kann man gar nicht sein, dass man da nicht sagt: “Ihr habt doch nicht alle Tassen im Schrank.”

Nach einem Bombeneinschlag in der Nähe haben sie uns dann von dort weggenommen und ich hab meine Lehre zum Industriekaufmann angefangen. Da bin ich dann einfach jeden Tag hingegangen und hab gearbeitet. Ich war der einzige Lehrling, kein Mensch hat von mir was gewollt und plötzlich war der Krieg aus. Wenn ich eine riesen Erscheinung gewesen wär, dann hätten sie sicher gefragt: “Was macht denn der hier noch?” So war es ein Vorteil, klein zu sein. Und unauffällig.

Und dann kam die Nachkriegszeit, wo alles aufwärts ging. Man konnte eigentlich gar nix anderes machen als was G’scheites. Für mich kam hinzu, dass ich der Laufbursche des Chefs (eines deutschen Großindustriellen) wurde. Es hat immer geheißen: “Des ist dem Alten sein Boppele”. Er war der reichste Mann Deutschlands und hat’s immer gut mit mir gemeint. Das war einfach eine Zeit, wo Du Glück gebraucht hast. Und Du musstest einigermaßen wief sein.

In den nächsten Jahren hab ich dann einfach immer weiter gearbeitet: mit dem Hauptschulabschluss, der Lehre und der Abendschule zum Betriebswirt war ich zum Schluss Hauptabteilungsleiter in einem Unternehmen mit 700 Leuten in der Pharmaindustrie.

Wenn ich irgendwem einen Ratschlag geben müsste, dann wäre das:. Involvier dich nicht zu tief, bleib dir treu, aber mach es mit Anstand. Das geht oft schneller und bringt einem auch nicht so viel Ärger.”


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