97 Jahre

Viel erlebt

Viertel: Glockenbachviertel
Lieblingsorte:
Cafes im Glockenbachviertel
Beruf:
Friseurmeisterin

– vorlesen lassen –

“Ich weiss gar nicht, wo ich anfangen soll, ich hab so wahnsinnig viel erlebt!

Aber ich sag’s mal ganz kurz: ich bin unter Hitler groß geworden und ein Erlebnis habe ich lange mit mir rumgeschleppt: Wir mussten uns in der Schule in Rassen aufstellen und ich stand als einzige unter “ostisch, ostbaltisch minderwertige Rasse”. Darunter hab ich ganz fürchterlich gelitten. 
Nach der Schulzeit kam der Reichsarbeitsdienst, ich musste erst beim Bauern, dann als Straßenbahnschaffnerin, danach im Krankenhaus als Schwesternhelferin arbeiten. Und wir haben richtig gehungert. Es gab einfach nichts mehr und ich habe sogar verschimmeltes Brot gegessen! Ich erinner mich auch an die Holzklapperln, die wir statt Schuhen getragen haben: Das waren Leinen-Oberteile und drunter waren Holzklötze. 


Das waren so die einschneidenden Erlebnisse, die ich behalten habe aus dem Krieg. Und vielleicht die jüdische Familie, bei der meine Mutter die Frau immer frisiert hat. Der Junge war immer auf unseren Geburtstagsfeiern. Aber plötzlich waren sie weg. Keiner wusste, wo sie waren. Aber KZs habe ich keine gekannt. Die waren alle im Osten. Wir wussten nur, dass in Dachau die Kommunisten umerzogen werden. Als ich später gehört habe, was da passiert ist, konnte ich das gar nicht fassen!

Meine Mutter hatte einen Damensalon und ich musste Friseurin werden. Ich wollte das absolut nicht. Aber ich hab dann geheiratet und mein Mann hat sehr gut verdient. Da brauchte ich nicht arbeiten. Wir haben gut zusammen gepasst, weil wir beide so verrückt und unternehmenslustig waren. Es war ein tolles Leben! Nur ist mein Mann dann von der Fahne gegangen. Er fühlte sich plötzlich so jung und musste dann eine junge Frau haben. „Midlifecrisis“ nannten sie das damals!

Aber ich hab einfach weitergemacht. Durch eine Freundin habe ich die moderne Kunst kennengelernt, die mir sehr viel Spaß gemacht hat. Durch sie habe ich viele Künstler kennengelernt und wir sind überall gewesen: Berlin, Düsseldorf, Köln! Als ich dann nach München gezogen bin, hab ich die moderne Kunst und vor allem meine Freundin sehr vermisst, bis die Pinakothek der Moderne eröffnet wurde. 


Ich war schon immer sehr neugierig und bin es immer noch! Das hat mir auch sehr geholfen, als ich mit 74 Jahren in München wieder von ganz vorne angefangen habe. Es hat nicht so lange gedauert und schon war ich wieder unter Leuten: ich hab 10 Jahre in der Seniorenbörse ehrenamtlich gearbeitet.
Nun singe ich jeden Mittwoch im Alten-und Service-Zentrum Isarvorstadt und hoffe, dass ich mich noch lange daran erfreuen kann.

Und jetzt im Alter hab ich noch mal das große Los gezogen: meine Tochter ist Krankenschwester und sorgt sehr gut für mich. Besser geht’s wirklich nicht. Ich bin sehr dankbar und weiss es zu schätzen. Das weiss sie auch. 

Das Allerwichtigste für mich ist, dass ich selbstbestimmt leben kann und „ohne Kaffee läuft nichts.”
”


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